Überfluss.

Ein neuer Stern ist entdeckt,
was nicht bedeutet, es wäre heller geworden
und etwas, was fehlte, wäre hinzugekommen.

Der Stern ist groß und fern,
so fern, daß wiederum klein,
kleiner sogar als die andern,
die noch viel kleiner sind.
Verwunderung wäre hier nicht verwunderlich,
hätten wir dafür Zeit.

Das Alter des Sterns, die Masse des Sterns, die Lage des Sterns,
das alles reicht womöglich zu einer Doktorarbeit
und für ein bescheidenes Gläschen Wein
in Kreisen, die nahestehen dem Himmel –
dem Astronom, seiner Frau, den Verwandten und den Kollegen −
ohne Kleiderzwang, bei aufgelockerter Stimmung.
Lokale Themen beherrschen die Konversation,
und Erdnüsse werden geknabbert.

Der Stern ist herrlich,
aber das ist noch kein Grund,
aufs Wohl der uns unvergleichlich näherstehenden Damen
nicht anzustoßen.

Ein Stern ohne Konsequenz.
Ohne Einfluß aufs Wetter, die Mode, das Spielergebnis,
aufs Einkommen, den Regierungswechsel, die Krise der Werte.

Ohne Folgen für die Propaganda, die Schwerindustrie.
Ohne Abbild auf der Politur am Konferenztisch.
Überzählig für die gezählten Tage.

Wozu hier fragen,
unter wie vielen Sternen der Mensch geboren werde,
unter wie vielen Sternen er nach einer Weile sterbe?

Ein neuer.
– Zeige mir wenigstens, wo er ist.
– Zwischen dem Rand dieses grauen ausgefransten Wölkchens
und jenem Akazienzweig, weiter links, ja dort.
Ich sage – aha.

Wisława Szymborska

 

 

Manche Anfänge sind so klein, dass man sie gar nicht sehen kann.
Manche Anfänge sind so groß, dass man sie gar nicht sehen kann.
Aber liegt es an den Anfängen oder an unserer Wahrnehmung?

Stephan Schwarz

 

 

Quellenangabe: Wisława Szymborska: Überfluss (Nadmiar), aus Dies., Überfluss (1979), in: Dies., Deshalb leben wir. Gedichte. Übertragen und hg. v. Karl Dedecius, 3. Aufl. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996 (Bibliothek Suhrkamp), 29f.